WZ-Nr. 156: Verbale Angriffe

Verbale Angriffe, andere Aggressionen und unser Umgang damit

Vor vielen Jahren trug es sich zu, dass ich eine Patientin zum ersten Mal besuchte. Wir vereinbarten eine Zeit, die ich um einige Minuten verpasste. Eine unglaubliche Flut von Verwünschungen und wüsten Flüchen erwartete mich, so dass ich einfach sprachlos zuhörte, bis sich die Emotionen der aufgebrachten Frau weitgehend gelegt hatten und ihr sozusagen die Luft ausging. Als ich dann zu Wort kam, entschuldigte ich mich höflich für die Verspätung und erklärte ihr, warum sie sich ergeben hatte.

Sie war besänftigt und offenbar einigermassen beeindruckt, dass ich nicht mit den gleichen Waffen zurückschlug. Ganz offensichtlich hatte ich ihr ein für allemal den Wind aus den Segeln genommen, denn von Stunde an war sie, zumindest mir gegenüber, die Freundlichkeit und Herzlichkeit in Person und konnte es jeweils kaum erwarten, bis ich sie wieder besuchte. Die Frau stand auf der untersten Stufe der Gesellschaft, lebte von der Sozialhilfe und in äusserst desolaten Verhältnissen. Sie stand mit jedermann auf Kriegsfuss, auch mit ihrem Mann – wie ich im nachhinein feststellte –, und zudem war sie von starken chronischen Schmerzen gepeinigt.
Eine andere Patientin war anfänglich ähnlich schlecht auf mich zu sprechen. Sowie sie mich zu Gesicht bekam, wallte die Wut in ihr hoch, und sie ertrug es kaum, dass ich sie anfasste. Gleichbleibend ruhig und entgegenkommend ging ich auf sie zu, bis sich die Wut nach und nach in Anhänglichkeit, ja fast möchte ich sagen, in eine Art Liebe verwandelte. Der Prozess erstreckte sich über einige Wochen, ihre Sympathie fiel mir also nicht so leicht in den Schoss wie im oben geschilderten Fall. Viel später gestand sie mir, was sie so aufgebracht hatte gegen mich. Damals trug ich an meiner Brille ein Kettchen, und dieses Kettchen war der Grund für ihren ungezügelten Hass. Es erinnerte sie an eine Ärztin, die ihr einst sagte, vermutlich müsse ihr Bein amputiert werden, doch man könne ganz gut auch mit einem Bein weiterleben. Dadurch sah sie sich in Zukunft ihrer ­Eigenständigkeit beraubt, und damit konnte sie absolut nicht umgehen. Besagte Ärztin trug auch ein Brillenkettchen, und so übertrug sie ihre heftige Abneigung gegen diese auf mich. Diese Frau war in jungen Jahren aus dem Südtirol in die Schweiz eingewandert. Sie musste damals ihr Land verlassen und hat sich nie wirklich mit den traumatischen Vorkommnissen ausgesöhnt. Als wir einander kennenlernten, konnte sie schon seit Jahren ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Sie war aufgrund eines Autounfalls behindert und unbeweglich, was ganz im Gegensatz zu ihrem unbändigen Freiheitsstreben und ihrem sehnlichen Wunsch nach Unabhängigkeit stand. Sie tat sich allgemein schwer mit neuen Menschen in ihrer Umgebung und fuhr aus alter Gewohnheit immer erst ihre Krallen aus, bevor sie mit jemandem ­einen guten Umgang fand, sofern er überhaupt zustande kam.