Materialismus und Bescheidenheit

Man tritt nicht mehr bescheiden beiseite, um andere höflich vorzulassen, denn vielmehr stehen sich die Massen eigennützig auf die Füsse. Egozentrische Bedürfnisse haben für die meisten Menschen Vorrang, und mit einem stoischen Lächeln oder einer erstarrten Miene wird mit den Ellenbogen das eigene Revier markiert. Die falsche Bescheidenheit ist vielen Menschen eine zweifelhafte und heuchlerische Untugend geworden. Weithin unbemerkt und im Verborgenen treibt sie ihre heuchlerischen Blüten des Selbstbetrugs und der bewussten Verblendung. Geschickt nützt sie die Erfolge ihrer hehren Schwester, der wahren Bescheidenheit, um sich betrügerisch an deren Tugendhaftigkeit und Ehrlichkeit zu laben und eigene Begünstigungen zu erheischen. Raffgierig lässt die falsche Güte das Bollwerk ihrer fälschlich lobgepriesenen falschen Bescheidenheit in sich zusammenstürzen, wenn sie sich von dem Bereicherung verspricht, worauf der wahrlich Anspruchslose gerne verzichtet. Wahrliche Genügsamkeit ist verschwiegen und schweigsam, die falsche Bescheidenheit jedoch schreit ihre vermeintliche Güte, die aber falsch ist, lauthals in die Welt hinaus. Doppelzüngig nimmt sie letztendlich jeden Günstling in die Pflicht. Nicht jede Abstinenz vermag im hellen Licht der hehren Redlichkeit zu glänzen, und so manche an den Tag gelegte Selbstlosigkeit hat in Tat und Wahrheit viele dunkle Seiten. Ihre Flagge weht jedoch mit Sicherheit am höchsten Mast des Sichtbarmachens, und vielen dient sie lediglich als Scheinalibi, um die eigene Liederlichkeit zu verdecken. Kultreligiöse Kreise nutzen in ihren Predigten und Reden gerne die rhetorische Kraft der Anteilnahme, der Nächstenliebe und Bescheidenheit, und sie kaschieren und rechtfertigen mit deren Hilfe ihre Selbsterniedrigung, falsche Selbstlosigkeit, hündische Demut und ihre horrende Unwissenheit.
Das tiefgründige Wesen der ehrlichen Bescheidenheit basiert auf einer gesunden Grundeinstellung und auf einer vernünftigen Lebenshaltung. Diese muss bereits von Kindesbeinen an von einem guten Vorbild erlernt und zeitlebens stets verinnerlicht werden. Im allgemeinen Volksmund werden die Bescheidenheit und die Genügsamkeit mit dem Verzicht auf materielle Güter gleichgesetzt. Es reicht jedoch nicht aus, deren hehre Werte lediglich in der Theorie zu kennen und ihre umfangreichen Attribute auf den materiellen Wohlstand und das Besitztum zu beschränken. Im gelegentlichen Verzicht und in einer trendigen Askese das eigene Gewissen zu beruhigen zeugt nicht von einer ehrlichen und verinnerlichten Bescheidenheit. Dem wahrlich bescheidenen und genügsamen Menschen widerstrebt es, die Besitzgier und die Habsucht der Menschen in allen ihren Farben zu begreifen. Wahrlich bescheidene Menschen verharren nicht im Streben nach materiellem Besitz, sondern sie sind froh um jede materialistisch-nichtorientierte Unabhängigkeit und Freiheit. Der schillernde Glanz von tiefer Zwischenmenschlichkeit berührt sie weitaus mehr als der von Silber, Platin, Gold und Edelsteinen. Der wahrlich bescheidene Mensch kennt auch keine Prahlerei und meidet jegliches Furore zu seinem Handeln, niemals jedoch in Form der Selbstverleugnung, Aufopferung und der Selbstaufgabe. Die Basis seines Handelns ist bewusste Zurückhaltung und eine kontrollierte Selbstgenügsamkeit. Dennoch sind sich die wahrlich bescheidenen Menschen ihrer persönlichen Qualitäten durchaus bewusst. Eine ausgeglichene Wesensart des Menschen zeugt von einer Kontrolle der eigenen Bedürfnisse. Die innere Ruhe und Ausgeglichenheit sind Ausdruck der Selbstzufriedenen. Ihre ehrliche Hilfe zur Selbsthilfe ist selbstlos im Sinne der schöpferischen Nächstenliebe. Wahrlich bescheidene Menschen sind uneigennützig, niemals jedoch unterwürfig, demütig oder untertänig. Der wahrlich bescheidene Mensch weiss um seine Stärke und um die psychologischen Gefahren einer Geltungssucht. Er hat ein gesundes Selbsterhaltungsstreben, wird sich jedoch niemals in eine Opferrolle drängen. Entsagung und Verluste sind ihm nicht fremd, und er weiss mit Rückschlägen aller Arten sinnvoll umzugehen.