Materialismus und Bescheidenheit

Gedanken über eine edle Tugend
Die Bescheidenheit zu pflegen und sie zu leben wird als eine der höchsten Tugenden angesehen, denn die ‹Bescheidenheit ist eine hohe Zier›. Unablässig werden auf dieser Erde irgendwo ihre edlen Werte beschrieben. Im Internetz und in Literaturverzeichnissen sind zahlreiche Abhandlungen über sie zu finden. Auch die FIGU-Schriften geizen nicht mit ihrer Erwähnung.
Hektisch eilen die Menschen über die Plätze, durch die Strassen und Bahnhöfe der Stadt zu ihren Zügen. Es ist Zeit, Zeit zu sparen! Ihre Habseligkeiten haben sie in Rucksäcken, Umhängetaschen oder Köfferchen verstaut. Ein gezielter Griff, und unter den Arm geklemmt eilends noch eine Zeitung. Stimmengewirr und das Geklapper der Schritte in den Hallen mischen sich mit dem Brummen und Pfeifen der bremsenden und ausfahrenden Züge. In nächster Umgebung behelligt das lachende Geplänkel der Menge die Ruhe meiner Konzentration. Geschäftig tanzen Fingerspitzen über ‹Tablets›, ‹Notebooks› und moderne PC-Tastaturen. Geöffnete Desktops ziehen starre Blicke in ihren Bann. Unterhaltung und Kommunikation, ‹iPad› und ‹Mobile-Phone›. In jedem Augenblick erreichbar sein, stets informiert, und jederzeit berauscht von ‹iPod›Musikklängen, liegt voll im Trend, ist oberste Maxime. Man hat gelernt, sich abzulenken, die anspruchslose Genügsamkeit und Einfachheit zu überlisten. Es ist für viele Menschen angenehm und bequem geworden, eine nötige Distanz zu sich selbst zu schaffen, um ungehindert auf dem verlockenden Konsumierungs-Tsunami den Alltag zu bewältigen. Betriebsam versprechen Plakate im übergrossen Weltformat die Selbstbescheidung der Banken und Versicherungen im Dienste ihrer Kunden. Reisserisch verheissen sie Erfolg und Profit, besondere Gelegenheiten, satte Rendite und einen ergiebigen Börsengewinn. Verdienste und Verluste liegen mitunter sehr nahe beieinander. Verlorene Millionen, Spekulationen und vernichtete Milliardensummen höhnen jeglicher Verantwortung und der gesunden Bescheidenheit. Die umsichtige Sparsamkeit ist mittlerweile zum Luxus geworden; Verschwendung und Verschuldung zu einem prahlerischen Standard und Markenzeichen unserer Zeit. Als Stiefkind belächelt, und längst vom Materialismus und der Besitzesliebe verdrängt, fristet die Genügsamkeit im Leben vieler Menschen ein höchst bescheidenes Dasein. Besitztum und Konsum werden zelebriert, die neuste Anschaffung detailliert verkündet, aktuelle Gewinne und Börsendaten permanent kommuniziert. Ein neues Kleid besticht durch einen eleganten Schnitt und seine Farbe, die neuen ‹Apps› durch ihre originelle Einzigartigkeit, das neue ‹Game› durch seinen Unterhaltungswert, und unerwartet streift mein Blick das angebissene Brot im Abfalleimer. Quo vadis humanitas?
Es sind noch keine einhundert Jahre vergangen, da waren ein eigenes paar Schuhe und vielleicht gar zwei Hemden Gold wert. Selbst ein eigenes Fahrrad war für viele kaum erschwinglich, und eine Glühbirne war, als Inbegriff des Wohlstandes, eine Kostbarkeit. Mein ehrwürdiger Grossvater, arbeitsamer Knecht und bescheidener Tagelöhner, Dir würden sich in unserer Gegenwart die Haare sträuben. Der Mammon lässt mittlerweile zahllose Marionetten nach seiner Pfeife tanzen, um in seinem Drehbuch unaufhaltsam neue Strömungen, Trends und Begierden zu erfinden. Bestechlich umgarnt er seine Opfer mit verführerischen Sonderangeboten und zerrt die Unersättlichen mit seinem süss-giftigen Duft an ihrer Nase. Es ist sehr einfach geworden, den Mantel der bescheidenen Genügsamkeit und Schlichtheit abzulegen. Das Sparen und eine wohlgepflegte Schlichtheit werden vom Rausch der schnöden Überflüsse und der verschwenderischen Lebensart veralbert. Die Menschen sind einander in der Masse überdrüssig geworden. Wichtige menschliche Werte einer gegenseitigen Verbundenheit und einer gesunden Gemeinschaftsordnung haben ihre eigentliche Bedeutung längst verloren. Das Gros der Menschen wird aggressiv und rücksichtslos. Sie werden skrupellos und im zwischenmenschlichen Umgang dürftig miteinander. Respekt, Anstand und Anerkennung sind vielfach längst dem Eigennutz gewichen.