Wodurch wird ein Mensch zum Amokläufer ...

Das, was hier im Wege eines Experimentes untersucht wurde, haben andere Wissenschaftler an Beispielen aus dem realen Leben überprüft. Eine Chance hierfür boten die Berichte von Juden, die während der Nazizeit von couragierten Menschen vor dem Zugriff der Gestapo gerettet worden waren. Gestützt auf deren Angaben konnten amerikanische Wissenschaftler Anfang der achtziger Jahre in Europa knapp 400 dieser Judenretter ausfindig machen und mit ihnen ausführliche Interviews führen. Dabei fanden sie zunächst heraus, dass es ganz unterschiedliche Typen von Menschen waren, die sich zu einem derart mutigen Verhalten entschlossen hatten. Da gab es solche, die sich aus grundsätzlichen Erwägungen zur Rettungstat entschieden hatten – meist ohne die betroffenen Personen vorher näher zu kennen. Und es gab andere, die mit den geretteten Juden vorher gut befreundet waren. Und schliesslich gab es Menschen, die plötzlich auf eine Notsituation gestossen waren und dann ihnen völlig fremde jüdische Mitbürger versteckt oder zur Flucht verholfen hatten. Bei dieser zahlenmässig bedeutsamsten Gruppe von Judenrettern entdeckten die Wissenschaftler wieder eine geschlechtsspezifische Besonderheit. Die Mehrheit von ihnen waren Frauen. Aber welche Gemeinsamkeiten haben sich in der Biographie von Menschen gezeigt, die durch derart couragiertes und hilfsbereites Verhalten aufgefallen sind? Die Erkenntnisse der Wissenschaft lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

  1. Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang. Menschen mit so ausgeprägter Zivilcourage hatten ganz überwiegend Eltern, die sie bei Konflikten nicht autoritär und mit Gewalt zu disziplinieren versucht haben, sondern mit ihnen fair und argumentativ umgegangen sind. Zwar gab es einige, die zu Hause Schläge abbekommen hatten. Aber sie machten dann deutlich, dass sie das angesichts ihres eigenen Fehlverhaltens durchaus akzeptieren konnten. Die Eltern hätten zudem nur ausnahmsweise zu diesem Mittel gegriffen und viel lieber gewaltfrei erzogen.
  2. Liebevolle Erziehung fördert die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden und danach zu handeln. Die Eltern der Judenretter waren mit ihren Kindern durchweg sehr liebevoll umgegangen. Dabei war das keine Gluckenliebe, die nur die eigenen Küken schützt. Mindestens einer der Eltern wird als jemand beschrieben, der sich engagiert für andere Menschen in Not eingesetzt hat und so zum Vorbild für die Kinder werden konnte.
  3. Die Gleichrangigkeit der Eltern fördert die Moral der Kinder. Die Stärke moralischer Überzeugungen und die Kraft nach ihnen zu handeln, hängen offenbar wesentlich davon ab, wie die Eltern miteinander bei Konflikten umgehen. Wenn zum Beispiel ständig der Vater dominiert, weil er über grössere Körperkräfte verfügt, weil das seine traditionelle Rolle ist oder weil primär er das Geld verdient, dann fördert das bei den Kindern eine eher opportunistische Grundeinstellung. Man orientiert sich am Mächtigen und lernt von ihm, die Ellenbogen kräftig einzusetzen. Die Orientierung an Grundwerten entwickelt sich dagegen, wenn die Kinder bei konflikthaften Auseinandersetzungen ihrer Eltern echte Gleichrangigkeit und faires Argumentieren erleben – verbunden mit wechselseitigem Nachgeben, damit konstruktive Lösungen gefunden werden konnten.
  4. Eine Kultur der Anerkennung fördert couragiertes Verhalten. Die Retter von jüdischen Mitbürgern stellten sich keineswegs als Helden oder Heilige dar. Sie betonten vielmehr, wie sehr ihr Verhalten in solchen kritischen Situationen davon abhängig war, ob sie in einer Gemeinschaft verankert waren, in der ehrlich geredet wurde und in der es für richtiges Verhalten liebevolle Anerkennung gegeben hat. Die Kraft zum Widerstand wuchs, wenn man in einer Grossfamilie, Kirchengemeinde oder einer anderen Bezugsgruppe nachhaltig gestützt wurde.

Die vier Punkte zeigen, welche Einflussfaktoren das Entstehen und Wachsen von Zivilcourage fördern. Zu klären bleibt, warum hier Frauen im Vordergrund stehen und warum sich zur Gewalt das Gegenteil abzeichnet. Letzteres wird am Beispiel der Amokläufer besonders deutlich. Bei ihnen handelt es sich weltweit zu etwa 95% um Männer. Ein ähnliches Bild vermitteln die Daten der polizeilichen Kriminalstatistik zur insgesamt registrierten Gewaltkriminalität. Bei der Altersgruppe des Erfurter Täters, den 18 bis 21jährigen, lag beispielsweise der Anteil der jungen Männer, die wegen Gewalttaten registriert worden sind, bundesweit im Jahr 2000 um das 12fache über dem der Frauen (1,9% zu 0,15%). Zu beachten ist dabei, dass dieser beträchtliche Abstand in der Gewaltbelastung von jungen Männern und Frauen seit Mitte der achtziger Jahre ständig zugenommen hat. Welche Erklärungen werden für diese geschlechtsspezifischen Besonderheiten angeboten?