Demokratie – totalitärer Staat – EU

Das sind ausser der Aussen- und Sicherheitspolitik so gut wie alle Politikbereiche. Die Führer Europas können also die Regelungen der Währungspolitik, der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, der Verkehrspolitik und Politik des Raumes von Freiheit, Sicherheit und Recht – das ist die Innenpolitik, die Justizpolitik, die Polizeipolitik – und anderes mehr ändern, ohne dass nach dem Lissaboner Vertrag die Völker zustimmen müssten. Im Europäischen Rat entscheidet allein der jeweilige Regierungschef. Das Europäische Parlament muss nicht zustimmen, es wird nur angehört. Allerdings müssen sich diese Änderungen im Rahmen der Zuständigkeiten der Union bewegen – diese Zuständigkeiten sind aber grenzenlos weit. Wenn man sich den Zuständigkeitskatalog ansieht, dann umfasst er die gesamte Wirtschaftspolitik, die gesamte Sozialpolitik, die gesamte Beschäftigungspolitik, auch die Bildungspolitik. Die Staats- und Regierungschefs könnten auch das Hochschul- und Schulwesen ändern. Diese Ermächtigungsklausel ist und hat meines Erachtens vor dem Bundesverfassungsgericht keine Chance. Zwar könnten die Völker ihrem Staatschef vorschreiben, dass er nur zustimmen darf, wenn etwa das Parlament oder gar das Volk den Vertragsänderungen zugestimmt hat. Deutschland aber sieht eine solche Zustimmungspflicht nicht vor. Der Bundestag und der Bundesrat werden zwar mit jedem Rechtsakt der Union befasst, sie können zu diesen aber nur eine Stellungnahme abgeben, die die Regierung berücksichtigen soll. In der Praxis sind diese Stellungnahmen so gut wie bedeutungslos. Diese Ermächtigung ist eine grenzenlose Entdemokratisierung, die das Bundesverfassungsgericht nicht akzeptieren darf. Sonst haben wir Verhältnisse, die mit der demokratischen Kultur der europäischen Völker nichts mehr zu tun haben.

Legalisierte Todesstrafe?
Ebenfalls in gleichem Interview äusserte sich der gleiche Professor zu einem anderen heiklen Punkt:

Die EU zieht ja im ‹Vertrag von Lissabon› die weitgehende Straf- und Justizhoheit an sich. Viel diskutiert war Artikel 2, Absatz 2 der Grundrechtecharta, wo die eigentliche Regelung in der Erläuterung praktisch ins Gegenteil verkehrt wird, so dass die Todesstrafe möglich ist. Würde eine solche Formulierung eventuell gegen das Bestimmtheitsgebot verstossen oder welche anderen Rechtsfolgen wären im Zusammenhang damit denkbar?

Professor Schachtschneider:
Die Regelung würde nicht gegen das Bestimmtheitsgebot verstossen – das ist ja eine grundrechtliche Regelung –, sie würde aber gegen die Menschenwürde verstossen. Ich denke, dass das Bundesverfassungsgericht klarstellen wird, dass sie jedenfalls in Deutschland keine Anwendung finden kann. Ich habe diese das Grundrecht des Rechts auf Leben wesentlich einschränkende Erklärung herausgefunden. Vorher wollte niemand sie sehen. Sie schliesst an die alten Regelungen und Vorbehalte der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten an. Dass diese berücksichtigt werden muss, sagt Artikel 6 des Lissaboner EU-Vertrages und das sagt auch die Grundrechtecharta selbst im Artikel 52, Absatz 3 und 7. Darin wird, wie Sie schon sagen, ermöglicht, dass im Kriegsfall oder bei drohender Kriegsgefahr das grundrechtliche Verbot der Todesstrafe und der Hinrichtung nicht greift. Das aber heisst, dass man diese Strafen einführen könnte und dadurch nicht gegen europäische Grundrechte verstossen würde. Wenn ein europäischer Rechtsakt die Todesstrafe einführt – die Zuständigkeitsordnung geht in der Verteidigungspolitik so weit, weil der Rat nach Art. 43, Absatz 2, EUV, Durchführungsmassnahmen für die Missionen beschliessen kann –, dann wäre das auf europäischer Ebene kein Grundrechtsverstoss. Es ist nicht hinnehmbar, dass der Grundrechtsschutz gegen die Todesstrafe in irgendeinem Bereich aufgehoben wird, der für die Völker Europas bedeutsam ist. Man sieht die Todesstrafe als geächtet an, kritisiert die Amerikaner für den Vollzug der Todesstrafe, schafft aber selbst Regelungen, welche die Todesstrafe oder die Tötung ermöglichen, weil bisher keine Einigkeit gefunden wurde, diese Erklärungen wegzulassen. Ein Gedankenspiel: Wenn es in der Zukunft in irgendeinem europäischen Land, das die Todesstrafe erlaubt, eine Hangman Ltd. gäbe – könnte diese eine Wettbewerbsklage am EuGH gegen Deutschland anstrengen, weil das Land die Todesstrafe verboten hat und so den Wettbewerb beschränkt?