Reflektieren und Toleranz

Die vermeintliche Allwissenheit entspricht einerseits lediglich einer blindgläubigen Hörigkeitsbehauptung und einem kultreligiös bedingten Realitätsverlust, andererseits aber auch einer horrenden und falschen Selbsteinschätzung.
Eine menschenwürdige und evolutiv wertvolle Lebensführung basiert auf unumgänglichen Lern- und Entwicklungsprozessen. Die theoretischen Erkenntnisse eines vernünftigen und sittlichen Verhaltens stehen beim Erdenmenschen oftmals im Widerspruch zur Umsetzung seiner praktischen Verhaltensweisen. Seine willentlichen Bemühungen und Fähigkeiten zur Selbstkontrolle stehen in einem ständigen Widerstreit mit dem Verstandes- und Vernunftdenken sowie mit dem Begreifen und Nichtverstehen. Entgegen seinen besten Absichten, Zielsetzungen, seiner Selbstverantwortung und seinen persönlichen Vereinbarungen werden vom Erdenmenschen die Vernunft, die Besonnenheit und seine eigenen Bemühungen oftmals erfolgreich zu Boden gerungen. Der stetige Kampf gegen die eigene Bedachtsamkeit sowie der falsche Glaube an eine kultreligiöse Fremdbestimmung lassen viele Menschen vor den eigenen Schwächen und Liederlichkeiten resignieren. In der Regel basiert die Motivation für zweifelhafte Handlungsweisen nicht auf einer arglistigen Boshaftigkeit, sondern vielmehr auf einer bewusst gewählten Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit oder auf einer eingeübten und gewohnheitsmässigen Ausblendung der drohenden Konsequenzen. Menschen neigen dazu, ihre falschen Verhaltensweisen und bedenklichen Handlungen vor den Mitmenschen zu verbergen. Hierbei sind ihnen die Trägheit und die Bequemlichkeit hilfreiche Kräfte, um nachteilige Situationen, Angewohnheiten oder Lebenskonstellationen einfach zu übergehen. Es ist sehr unbequem und äusserst unangenehm, das eigene Unvermögen, eigene Schwächen, Liederlichkeiten und gewohnte Nachlässigkeiten zu erkennen und zu akzeptieren. Der ‹moderne› Mensch erfindet immer wieder neue Wege, den eigenen Liederlichkeiten und Charakterschwächen den Status des Erlaubten einzuräumen. Mit fadenscheinig motivierten Selbstentfaltungsseminaren, mit kultreligiös geprägten Verhaltensinterpretationen, juristischen Raffinessen oder ideologischen Ränkespielen wird ein egozentrisches Benehmen als Selbsterfahrung stilisiert, legalisiert, gebogen und gebeugt.
Unliebsame bewusstseinsmässige, körperliche und psychische Versehrtheiten sind vielen eine stetige Bedrohung, und die bewusste Selbstbestimmung ist ihnen eine harte Prüfung und anstrengende Lebensschule. Manchem Menschen sind beide Möglichkeiten, so also die Selbstbestimmung und die eigene körperliche Verletzbarkeit, spinnefeind. Wer selbst denkt, bestimmt und lenkt das eigene Leben; und wer bestimmen will, muss selbst denken.
Das Zugeständnis an die Existenz der eigenen Liederlichkeit wird gemeinhin als eine Disqualifizierung des eigenen Charakters betrachtet und von einem unguten Gefühl der Beschämung begleitet. Niemand akzeptiert mit Begeisterung die eigenen Charakterschwächen. Ein fehlerhaftes Handeln, die Existenz von menschlichen Schwächen, von zweifelhaften Neigungen, üblen Passionen und bedenklichen Leidenschaften sind als solche im Grunde genommen keine Schande. Jegliche Unart des Menschen, als naturgegebene Naturwidrigkeit betrachtet, dient ihm in letzter Konsequenz als wichtiger Lernfaktor in der persönlichen Entwicklung. ‹Musterknaben› werden nicht als solche geboren. Leider berücksichtigt der Erdenmensch nur selten das Gelernte und vermeidet es in der Regel, nach Verstand und Vernunft zu handeln. Seine Erfahrungen, Einsichten und Erlebnisse sind in seiner persönlichen Entwicklung durchaus von tragendem Wert. Leider zeitigen diese jedoch vielfach keine nachhaltige Wirkung und geraten sehr oft und sehr schnell wieder in Vergessenheit. Der Mensch ist es gewohnt, alle Erfahrungen und neuen Erkenntnisse lediglich als solche zur Kenntnis zu nehmen, um sie umgehend als Brachland wieder beiseitezulegen.