Freiheit und Zwang

In jedem einzelnen Augenblick werden vom Menschen eine Verkettung von Entscheidungen gefällt. Die vermeintlich freie Auswahl des Sitzplatzes in einem Zug ist als lebenspraktisches Beispiel die Folge einer Reihe von rasanten Gedankengängen und raschen Entscheidungen. In äusserst seltenen Fällen erfolgt die Auswahl jedoch als unbeeinflusste Spontaneität, aus einer Gleichgültigkeit oder Gedankenlosigkeit heraus. Mit dem Eintreten einer diesbezüglichen Situation werden in der Regel umgehend praktische und rationelle Erwägungen in Betracht gezogen. Während der äusserst kurzfristigen Zeitspanne zur Platzwahl erfordern Sympathien oder Antipathien eine schnelle Entscheidung für oder gegen die Sitznachbarschaft. Unbewusst beeinflussen unangenehme Gerüche, angenehme Düfte, eine freie Zeitung auf der Ablage, störende Bewegungen, unerträgliche Stimmen, hinderliche Gegenstände, die Art der Kleidung, das Geschlecht sowie unzählige rationale oder diffuse Faktoren die Annahme oder Ablehnung eines freien Sitzplatzes. Ebenso entscheiden umgehend eine spärliche Äusserung, ein wohlklingender Tonfall der Stimme, eine grämliche Geste, ein abstruser Blick, ein freundliches Lächeln, ein missgelaunter Gesichtsausdruck oder eine verschmähende Gebärde über Sympathie oder Antipathie. Die Notwendigkeit einer schnellen Entscheidung zur Annahme oder Ablehnung des freien Sitzplatzes wird in diesem Beispiel unter einem gewissen Zugzwang von unzähligen Einflüssen manipuliert. Der entstehende Entscheidungsdruck zeigt sich dem unkontrollierten Menschen als eine Form von selbstauferlegter Freiheitsberaubung, denn das hastige Ermessen und Erfassen der Situation wird zum Entscheidungszwang. Unter Umständen wird resigniert und eine unliebsame Situation unfreiwillig akzeptiert. Als weiteres Beispiel basiert das euphorische Wetteifern und die fanatische Begeisterung der ausgelassenen ‹Fans› für eine Musikband, eine Sportmannschaft oder für einzelne Preiskämpfer/innen usw. nicht auf der Grundlage einer freien Entscheidung. Vielmehr spiegelt das schwärmerische Solidaritätsverhalten die komplexen psychologischen Mechanismen einer persönlichen Unterwerfung in Gruppenzwänge oder in modische Strömungen. Es ist der unlogische und von äusseren Zwängen suggestiv erzeugte Wunsch, kritiklos, blind und tatkräftig einem von fremder Hand erzeugten Trend zu folgen. Die Einordnung in den Gruppenzwang wird den Mitläufern zur Pflicht und die persönliche Freiheit und Individualität dabei einer Gleichmachung und fanatischen Abhängigkeit geopfert. Das Bewusstsein, die Psyche und das Gefühlsleben der ‹Fans› werden in eigener Bestimmung in die Unfreiheit und Knechtschaft der erzwungenen Anpassung geführt.