Ehrwürdigkeit, Gleichheit und Gleichwertigkeit

Die Zeitungen sind täglich voll von Entwertungen und Suggestionen, in irgendwelchen Situationen oder Lebensbelangen den Ansprüchen der Welt nicht oder nicht mehr zu genügen. Nur wer im Trend liegt, ist gleichwertig dazugehörig. Modebegriffe und Werbeslogans wie Streetstyle, Lifestyle, In-Sein, Dabeisein, Fan-Sein, Solidarisch-Sein, Deine Party, Ich bin doch nicht blöd, Sie sind es sich wert! prägen und bestimmen das tägliche Leben zahlreicher Menschen. Die Entwertungen und das Herabsetzen von Menschen in den alltäglichen Bereichen sind vielfältig und zahlreich, insbesondere an Orten und in Situationen, in denen Menschen und deren Verantwortung ‹übernommen› und fremdbestimmt werden. Es sind lebensbedingte Konstellationen und Lebenslagen, in denen bewusst oder situationsbezogen die eigene Verantwortung an andere Personen abgegeben oder übertragen werden muss. Beispiele entwertender Situationen im Alltag sind uns allen bekannt: Wie fühlt sich eine Frau auf dem gynäkologischen Stuhl, die Blicke des Arztes auf ihren Intimbereich gerichtet, während er mit seiner Assistentin herumalbert? Wie fühlt sich der Patient beim Zahnarzt, wenn dieser fluchend versucht, den Weisheitszahn zu ziehen? Wie fühlt sich das Kind, dem permanent Unfähigkeit eingetrichtert wird? Wie fühlt sich der alte und pflegebedürftige Mensch, der gefüttert werden muss und dabei vom Personal dauernd zur Eile ermahnt wird? Wie fühlen sich Mitarbeiter, die von ihren Vorgesetzten permanent disqualifiziert, kritisiert, bevormundet oder entwertet werden? Wie fühlen sich Menschen, wenn sie bei den kleinsten Verfehlungen, Misserfolgen oder bei Peinlichkeiten gemassregelt oder beschimpft werden? Wie fühlen wir uns selbst, wenn wir bei etwas Kompromittierendem erwischt werden? (Der Begriff Kompromittierung kann bedeuten: Die Blossstellung einer Person anderen Personen gegenüber und die damit verbundene Demütigung bzw. Kränkung.)
Derart einschneidende Situationen sind jedem von uns aus dem eigenen Leben bekannt. Zum Beispiel, als Kinder beim Doktorspielen erwischt zu werden, dem natürlichen und kindlichen Erforschen und Entdecken der eigenen Nacktheit und Körperlichkeit. Die falschen, unlogischen und moralisierenden Erwachsenenbewertungen und entwertende Schelte können tiefe, negative psychologische Spuren und Schäden im Bewusstsein eines Kindes hinterlassen: «Das ist schmutzig; das tut man nicht; du kommst dafür nicht in den Himmel; der liebe Gott wird dich dafür bestrafen; das gehört sich nicht; du bist nicht normal; du wirst einen schwarzen Fleck auf der Seele haben» usw. Die zahlreichen, dummen und unqualifizierten Argumentationen der Erwachsenenwelt tönen mir noch immer in den Ohren, und sie sind so zahlreich wie die Dummheit selbst. Am 28. Mai 09 hat sich der Autor folgenden Spruch notiert: Nur Blattgold gewinnt an Wert und Edelmass, wenn man es permanent behämmert - Menschen nicht.
Vor allem beim weiblichen Geschlecht ist oft eine gewisse Abhängigkeit und selbstauferlegte Verpflichtung des Genügenwollens oder Angepasstsein-Müssens zu beobachten: «Ich verdiene Zuwendung und Achtung nur, wenn ich fremden Ansprüchen genüge.» Die eigene Wertigkeit und persönliche Wertschätzung werden an die Erfüllung und Befriedigung bestimmter Voraussetzungen, Ansprüche und Wünsche von Aussenstehenden gebunden. Viele Frauen stellen die eigenen Bedürfnisse und Anliegen zu Gunsten fremder Ansprüche oft weit zurück. Dadurch degradieren sie sich zum Opfer eigener Selbstentwertung. Im Rahmen dieser Selbsterniedrigung werden sie bei der Durchsetzung und Pflege eigener Herzenswünsche oft von schweren Gewissensbissen geplagt.