Den Schock überwinden

Am 11. September erlitt die westliche Welt ein tiefgreifendes Debakel, als unter den Trümmern der beiden Türme des World Trade Centers in New York nicht nur sehr, sehr viele Menschen begraben wurden, sondern auch das künstlich aufgebaute Sicherheitsgefühl vieler Menschen. Der Schock und die Hilflosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins und das plötzliche Bewusstwerden wühlt die Menschen sichtlich auf, dass jederzeit und überall eine Katastrophe über sie hereinbrechen kann, die sie aus ihrem gewohnten Alltagsleben herausreisst und sie in eine neue, unbekannte Welt mit neuen, nicht abschätzbaren Herausforderungen schleudert. Schrecken und nackte Angst ist in die Gesichter der Menschen in den TV-Berichten geschrieben und überall wird von Trauer und Entsetzen und von unendlicher Traurigkeit gesprochen.

Auch mich liessen die Ereignisse nicht kalt, und der erste Schreck machte sich in meiner Magengrube ebenso bemerkbar, wie bei vielen anderen Menschen. Auch ich bedauerte die armen Menschen, denen ein böses Schicksal so übel mitgespielt hatte. Die Phantasie musste ich noch nicht einmal bemühen, um mir die furchtbaren Tragödien vorstellen zu können, die über viele Menschen hereingebrochen waren, und davon sind ja nicht in erster Linie jene betroffen, welche ihr Leben lassen mussten, sondern vorwiegend jene, welche zurück und noch am Leben geblieben sind. Ungeachtet ihrer moralischen Verstrickung wurden diese Menschen von einem furchtbaren Schlag getroffen, der eine spürbare Schockwelle auslöste, die um die Welt ging und deren Auswirkungen noch nach Tagen zu spüren sind. Dies umso mehr, als verantwortungslos und dumm, ohne Verstand und ohne Einfühlungsvermögen genau auf diesem Zustand der Menschen herumgeritten wird, frei nach dem Motto: «Seht her, wie betroffen, wie traurig und wie geschockt wir alle sind und wie sehr wir unter den Ereignissen leiden und mit den Betroffenen mitleiden!» Genau dieses Herumgehacke traumatisiert aber jene, welche ohnehin Probleme damit haben, ein derart schockierendes Ereignis richtig einzuordnen und die nötige innere Distanz dazu zu gewinnen, um wieder funktionsfähig zu werden und sich selbst normalisieren zu können.

Statt die Menschen in Ruhe ihre Eindrücke verarbeiten zu lassen, wurden die Schreckensbilder ohne Unterlass und aus jeder nur möglichen Perspektive wiederholt, um sie nur ja richtig tief im Erinnerungsvermögen zu verankern. Genau das hilft den Menschen aber nicht dabei, nach einem solchen Desaster wieder zu sich selbst zu finden. Besser würde ihnen bewusst gemacht, dass weder ein solcher Terrorakt noch Schlimmeres etwas daran ändert, dass der Mensch seine primitivsten Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen, Kleidung und Wärme usw. stillen und befriedigen muss, und dass sich gerade darin das Leben in seiner tröstlichen Unendlichkeit manifestiert. Es liegt folglich auch in der primitivsten Form der Selbstverantwortung, genau diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, weil sie mithelfen, durch die in ihnen liegende Ablenkung vom Elend, die eigene Psyche wieder zu stabilisieren, um Leid und Schrecken nach und nach zu überwinden. In den alltäglichen Verrichtungen und in einer angemessenen und psycheberuhigen den Ablenkung z.B. durch schöne Musik, gut gefilmte Natursendungen oder interessante Dokumentarfilme usw., die in keiner Weise an die Schockbilder erinnern, könnte der Mensch vom erlebten Grauen angemessenen Abstand nehmen, um sich aus einiger Distanz mit den Geschehen auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken.

Genau dieses Nachdenken aber wird umgangen und verhindert, besonders vom einzelnen Menschen selbst, der lieber eine unechte Traurigkeit zutage legt, als dass er aus einiger Distanz den Zusammenhängen und Mechanismen nachgehen würde, die zu solchen abscheulichen Untaten geführt haben. In diesem Nachdenken könnte jeder für sich selbst nämlich den Weg aus dem unablässigen Dilemma finden, das aus Hass und Rachsucht und dem Schrei nach Vergeltung aufgebaut ist. Eine Änderung im Denken und Fühlen der Gesamtmenschheit und ein Hinwenden zu einem menschenwürdigen Humanismus muss in den friedlichen Gedanken und Handlungen des einzelnen seine Wurzeln finden, um weltweit Bestand haben zu können. Diese notwendige Umkehr fusst in einer wahrhaftig empfundenen Trauer, die mit der aufgesetzten und zur Schau gestellten Traurigkeit vieler Menschen nichts zu tun hat, die letztlich nur in hilflosem Mitleid und in schönen, leeren Worten endet. Wirklich empfundene und verarbeitete Trauer verhilft dem Menschen zu tiefgreifendem und echtem Mitgefühl, aus dem heraus er den Betroffenen fortschrittlich helfen und sie wirklich nachhaltig unterstützen kann.