Leserfrage

Leserfrage

Im Bulletin Nr. 27 vom März 2000 wurde meine Frage Nr. 6 bzgl. dem Verständnis von Karma, Schuld und Bestimmung netterweise ausführlich und einleuchtend beantwortet. lch möchte wirklich nicht rumnerven, aber da gibt es noch etwas, das ich zum Thema Gerechtigkeit immer noch nicht verstanden habe: Also, laut BilIys Erklärungen überträgt sich eine Sühne bzw. ein Karma naturgesetzmässig nicht ins nächste Leben, da jeder Fehler stets mit einem Schaden verbunden ist, aus dem wiederum im gegenwärtigen Leben gelernt wird. Ausserdem verlangt die Schöpfung keine Strafe und keine Busse im nächsten Leben, so der Mensch also seine ganze «Schuld» mit seinem Tode ablegt. Die Erklärungen auf den Seiten 2593f beziehen sich also einzig und allein auf eine bestimmte Gruppe von Menschen, die für Menschen ausserhalb dieser Gruppe nicht relevant sind. Bis hierhin ist noch alles klar! Aber jetzt: (Entschuldigt das folgende Beispiel, aber um meine Frage klar zu machen, beschreibe ich einen sehr extremen Fall.) Nehmen wir an, ein Mensch wird zum Mörder und fügt damit anderen Menschen Schaden zu, stirbt jedoch noch, bevor dieser Schaden auf ihn «zurückfällt», so er also nicht die Möglichkeit hat, aus seinen verheerenden Fehlern zu lernen. Seine Fehler hätten schöpfungsgesetzmässig keine Auswirkungen auf sein nächstes Leben. Doch was ist mit den Opfern seiner Greueltat? War die Ermordung ihrer Angehörigen oder ihrer selbst eine Bestimmung, die sie sich selbst durch begangene Fehler im derzeitigen Leben geschaffen haben, um nun daraus zu lernen und die begangenen Fehler, die zu dieser Bestimmung geführt haben, nicht wieder zu begehen? Was wäre aber, wenn unter den Opfern ein Kind ist? Unmöglich, dass dieses Kind in seinem kurzen Leben einen so verheerenden Fehler begangen haben soll, der es «rechtfertigen» würde, dass ihm ein solcher Schaden widerfahren muss. Denn es ist ja nicht möglich, dass dieses Kind diese Bestimmung aufgrund eines Fehlers seines vorherigen Lebens hat. An dieser Stelle frage ich mich, was denn eigentlich schöpfungsnaturgesetzmässige Gerechtigkeit überhaupt ist bzw. wie so ein «Schaden», der aus einem Fehler entsteht, überhaupt geartet ist. Man könnte annehmen, ein Mensch habe stets einen freien Willen und entscheide daher stets selbst, ob er anderen Menschen Böses zufügt oder nicht. Tut er es, so muss er aus seinem Fehler lernen, indem ihm (wenn ich das überhaupt richtig verstanden habe) wiederum Schaden zugefügt wird. Aber kann ein Mensch wirklich immer frei entscheiden? Nach der Theorie des Philosophen Arthur Schopenhauer wird unser Wille von Motiven geleitet, die wiederum das Resultat von äusseren Bedingungen der Umwelt sind, so ein Mensch also nicht frei handelt, sondern immer nur auf die Gegebenheiten der Umwelt reagiert; der Wille des Menschen sei also vorprogrammiert. Nehmen wir also an, ein Mensch hat eine wirklich schreckliche Kindheit gehabt, ein zerrüttetes Elternhaus, keine oder kaum Liebe empfangen können und wurde somit zum Egoisten oder sogar zum Verbrecher. (Denn wie kann man, frage ich mich, sich zu einem sozialen, liebevollen Menschen entwickeln, wenn einem selbst nur Schlechtes in der Kindheit widerfahren ist?) Dieser Mensch würde also zwangsläufig Fehler begehen aus Unwissen, also anderen Schaden zufügen. Doch aus welchen Gründen muss ein Mensch eine solche Kindheit erdulden, wenn nicht aus einer Bestimmung heraus, die aus Fehlern des vorherigen Lebens resultiert? Oder hat dieser Mensch etwa einfach nur Pech gehabt? Der Philosoph Jean-Paul Sartre würde sagen, dass die Lebensumstände an sich nichts Negatives sind, sondern erst durch unser Ermessen als Hindernis gesehen werden, «richtig» zu handeln, denn der Mensch sei stets frei, selbst zu entscheiden, wie er mit seinen Lebensumständen umgehe. Somit erscheinen die Dinge der Umgebung erst durch die Zielsetzung des Menschen als feindselig; an ihm allein liege es dann, eine entscheidende Handlung frei zu wählen. Aber das kann ich nicht nachvollziehen. Ich denke, wir sind uns einig darüber, dass es ziemlich ungerecht ist, dass die einen ein liebevolles Elternhaus haben, während die anderen verwahrlost heranwachsen. Unsere gesamte Gesellschaft ist ungerechterweise so aufgebaut, dass es einigen Mitgliedern leichter gemacht wird, «richtig» zu handeln als anderen, die eine viel höhere Motivation haben, durch Verbrechen an das zu gelangen, was andere bereits seit der Geburt besitzen. Welcher sozialen Schicht man angehört und durch welche Erfahrungen man in der Kindheit geprägt wird, ist doch schon vor der Geburt teilweise festgelegt. Was ich mit dieser langen und umständlichen Frage eigentlich sagen will ist, dass es mit dem buddhistischen Glauben an Karma ziemlich einfach ist, die scheinbar ungerechten Lebensumstände zu Beginn eines Lebens zu erklären, da diese stets das Resultat vom vorherigen Handeln sind. Wenn sich aber in der Realität das Karma naturgesetzmässig nicht ins nächste Leben überträgt, verstehe ich nicht, warum nicht jeder die gleichen Chancen zu Beginn seines Lebens hat. Diese Frage soll keine Kritik an vorherigen Erklärungen Billys sein, sondern nur die Bitte, diese Zusammenhänge noch einmal ausführlich und an konkreten Fallbeispielen (wenn das geht) zu erklären!

N.L./Deutschland