Humanität und Nächstenliebe

Dieses Wissen macht dich bescheidener und gelassener und es befähigt dich, nach und nach falsche Gefühle wie Eifersucht, Neid und Machtansprüche usw. abzulegen, weil du ja die innere Freiheit hast, dich selbst überall hinzulenken. Du selbst hast es in der Hand, was aus dir wird. Keinem anderen Menschen wurde geschenkt, was er hat, und so auch dir nicht. Wozu also neidisch sein oder missmutig darüber, dass ein anderer mehr kann? Natürlich ist es oftmals sehr schwierig, diesem Grundsatz treu zu bleiben, denn immer wieder brechen alte und schlechte Gewohnheiten bei dir selbst durch, Launen und Stimmungen, die die Arbeit an dir selbst wieder verdrängen wollen. Bleibe dir selbst treu, frage dich immer wieder danach, ob deine Gedanken noch human sind und suche in allem das Humane. Räume jedem anderen dasselbe Recht ein und hilf ihm zu leben. Wenn du so verfährst, dann bleibt dir gar keine Zeit mehr, immer nur die Fehler anderer zu sehen und sie deswegen zu verurteilen, denn du bist mit dir selbst beschäftigt. Nur indem du dich in dir selbst zum wirklichen Menschen hocharbeitest, wirst du fähig, dem Leben gerecht zu sein, denn du lernst Respekt, Ehrfurcht, Liebe und Verantwortung gegenüber dir selbst und gegenüber allem anderen Leben. Wenn du aber denkst, ‹weshalb soll ich mich so anstrengen und bemühen, wenn doch der Rest der Welt verrucht, egoistisch und selbstherrlich ist›, dann betrachte einmal ein Gänseblümchen am Wegesrand: Es ist klein und unscheinbar, aber es kümmert sich nicht darum, ob es von dir wahrgenommen wird oder nicht. Es blüht und ist schön aus sich selbst heraus, für sich selbst und für jene Umwelt, die sich auch an ihm erfreut, und es lebt sowohl in sich als auch in vollkommener Harmonie mit dem Gesetz des Lebens, womit es seinen Teil leistet im Gefüge der Natur.

Der ist nicht frei,
der da will tun können,
was er will,
sondern der ist frei,
der das wollen kann,
was er tun soll.

Matthias Claudius