WZ-Nr. 196: Entfaltung

46. Jahrgang, September 2020
Wassermannzeit-Verlag / «Billy» Eduard Albert Meier


Entfaltung
von B. Keller, Schweiz

Die Neugierde auf den Menschen und das Interesse an ihm hat einen zentralen Stellenwert in meinem Leben, und aus diesem Grund sehe ich mir auch gerne Beiträge im Fernsehen an, die sich um ungewöhnliche Biographien drehen. Die Sendung ‹Lebenslinien› ist so eine Sendung, die ich mir ab und zu gönne. Kürzlich wurde eine Frau vorgestellt, die mich unglaublich beeindruckt und inspiriert hat.

Zusammen mit acht Geschwistern wuchs sie als Zweitjüngste in ­einer Familie von strenggläubigen ‹Zeugen Jehovas› heran. Als einzige konnte sie sich den strengen und einengenden Glaubensdogmen nie unterordnen, hinterfragte alles und war daher die Rebellin und das rabenschwarze Schaf der Familie. Es war ihr strikte verboten, weiterführende Schulen zu besuchen; der Wunsch, Biologie zu studieren war schon gar kein Thema. Schliesslich stand für die Eltern fest, dass es sich nicht lohnen würde, diesen Aufwand zu betreiben und Kosten zu verursachen, da die Welt ohnehin sehr bald untergehen würde. Um sich nicht zu verlieren, verliess sie mit 14 ihre Familie. Es war ihr vollkommen bewusst, dass sie diese und auch ihr gesamtes soziales Umfeld verlieren würde, aber sie musste es tun, um sich selbst zu retten. Sie fand Arbeit in einem privat geführten Lebensmittelgeschäft, und dort stellte sie sich so geschickt und tüchtig an, dass sie mit 16 bereits die kleine Filiale mit zwei Mitarbeitern leiten konnte.