WZ-Nr. 184: Wenn die Tugenden in Pension gehen

43. Jahrgang, September 2017
Wassermannzeit-Verlag / «Billy» Eduard Albert Meier

Aber gerade diese Phase hat es in sich, denn bis anhin war immer vieles klar geregelt, nur dieser Lebensabschnitt wurde unterschätzt, weil er nicht bewusst wahrgenommen und nicht darüber nachgedacht wurde, was von dieser Lebensphase auf das ­eigene Leben bezogen zu erwarten ist. Dieser Moment des vermeintlichen ‹Nicht-mehr-Müssens› führt bei einigen zu einem neuartigen falschen Verständnis der Freiheit und des Glücks. Die neugewonnene Freiheit nehmen sie zum glücklichen Anlass, ihr Ego auszubauen und bestehende Verbindlichkeiten für sich selbst als nichtig zu erklären, was deutlich zu einer tieferen Hemmschwelle führt, womit sie gerne ein Recht darin sehen, dass sie sich nicht mehr im gleichen Rahmen in die gesellschaftlichen Gepflogenheiten einzuordnen haben wie zu Lohnerwerbs-Zeiten, und manchmal erklären sie sich gleich selbst zum Sonderstatus, was natürlich die ganze Welt zur Kenntnis zu nehmen hat. Anstand und Respekt, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit und andere Tugenden, die ein Leben lang gepflegt wurden, bleiben immer mehr zurück, und die egoistischen Wünsche drängen in den Vordergrund und breiten sich aus. Es scheint so, als wäre alles Gelernte nur dafür da gewesen, um für den Moment über die Runden zu kommen, genau so, wie bei Schulprüfungen jeweils nur für den Moment gelernt wird und nicht fürs Leben.