WZ-Nr. 184: Wenn die Tugenden in Pension gehen

43. Jahrgang, September 2017
Wassermannzeit-Verlag / «Billy» Eduard Albert Meier

Und so kommt es, dass Menschen, die eigentlich ein Leben lang Verantwortung getragen haben – scheinbar Verantwortung getragen haben –, plötzlich etwas ablegen, das nach aussen gemeinhin sehr erstaunlich wirkt. Denn nun findet offenbar ein Gesinnungswechsel statt, der alles Bisherige an vermeintlicher Loyalität zum eigenen ­Dasein in Frage stellt. Es ist zwar verständlich, dass der Wechsel von einem meist 40 Jahre lang vorgegebenen, strukturierten Arbeitsalltag in einen nicht verplanten Freizeitmodus eine Herausforderung an die Selbständigkeit des einzelnen darstellt. Dass dieser Wechsel von Fall zu Fall anders abläuft, ist auch verständlich. Und doch hat es ­einige Menschen, die davor anders waren. Offenbar sind sie ein Leben lang nicht sich selbst gewesen, denn nichts ist mehr recht, als wollten sie aus einer alten Haut schlüpfen und Vergangenes und Erlebtes, das sie ein Leben lang geprägt hat, irgendwie vergessen und vergessen machen. Das Leben muss noch eine Wende erfahren, als sei ihr bisheriges Leben eine einzige gelebte Lüge, für die sie selbst keine Verantwortung tragen, aber absurderweise eine Schuld bei der Gesellschaft, der Erziehung oder dem Schicksal lokalisieren, obwohl sie sich dabei nicht so genau festlegen wollen. Irgendwie scheint es, als ob diese Menschen in ihrem Leben nochmals einen gewaltigen Neuanfang bewerkstelligen wollten, und zwar einen, der mit dem bisherigen Leben bricht.