WZ-Nr. 156: Verbale Angriffe

Das dritte Beispiel eines Menschen, der bei unseren ersten Begegnungen seine Wut an mir auszulassen pflegte, war ein Mann. Im Gegensatz zu den beiden Damen war er finanziell gutgestellt und als ehemaliger Arbeitgeber gewohnt, seine Untergebenen zu beherrschen. In der aktuellen Situation war er sehr krank und bekam kaum mehr Luft zum Atmen. Er war ein äusserst cholerischer Zeitgenosse. Zwei meiner Kolleginnen hatte er schon rausgeworfen, und nun war ich an der Reihe, ihm die Dienstleistungen unserer Gesundheitsorganisation angedeihen zu lassen. Freilich versuchte er auch mich kleinzukriegen. Mehrmals unterbrach er unsere Telephongespräche und hängte den Hörer auf. Auch bei sich zu Hause behandelte er mich nicht viel besser. Auf Diskussionen liess ich mich nie ein, aber er spürte ganz klar, dass er sich an mir die Zähne ausbeissen würde, wenn er weiter so unflätig mit mir umsprang. Dass wir gute Freunde wurden, kann ich nicht sagen, aber wir fanden einen Weg miteinander, der für beide annehmbar war.
Solche Situationen begegnen mir nicht täglich, aber wenn ich mit Menschen zu tun habe, die sich mir gegenüber ausfallend oder auch nur unfreundlich oder angriffig verhalten, dann werde ich, ohne es bewusst zu steuern, erst mal ruhig in mir und warte ab, was sich weiter ergibt. Und während ich z.B. so eine Tirade über mich ergehen lasse, finde ich Zeit, mich so gut es geht, in mein Vis-à-Vis hineinzuversetzen, zu spüren, was wohl der Hintergrund sein könnte für dessen ungewöhnliches Verhalten; auch beobachte ich, was dabei in mir vorgeht.
Dass ich so gut wie immer nur vordergründig die Ursache bin, das weiss ich, also müssen andere Dinge dahinterstecken. Es können alte Verletzungen sein; die Überzeugung, von den Menschen nicht für voll genommen zu werden; immer die zweite Geige spielen zu müssen; nicht im Mittelpunkt zu stehen oder immer zu kurz zu kommen (wenn man nicht die Zähne bleckt); nicht verstanden zu werden und dergleichen mehr. Letztlich läuft alles darauf hinaus, nicht in seinem Wesen, wie es nun einmal ist, geliebt und akzeptiert zu werden. Und wer unter uns will nicht geliebt und akzeptiert werden von seinen Mitmenschen? Mit anderen Worten kann ein solch aggressiver Angriff eine Bitte, ein Hilferuf um Verständnis, um Liebe, um Einbezogenwerden sein, um geachtet und als Mensch ­geehrt und respektiert zu werden – wenn auch sicher vorwiegend unbewusst. Wenn ich das begriffen habe, dann kann ich mit derlei ­Situa­tionen angemessener umgehen. Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, dass dem Menschen meine Stimme auf die Nerven geht, dass ihm meine Sommersprossen missfallen oder ihn meine gute Laune nervt.