Tand, Tand ist das Gebilde aus Menschenhand ...

Alles tat sich mir irgendwie als Ahnung auf und erschütterte mich aufs Tiefste – letztlich wurde mir bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben zuvor noch niemals an einem so schlimmen Ort gewesen war. – Natürlich kenne ich die Bilder zerstörter und zusammengebombter Städte aus dem Fernsehen, und ich hatte zuvor auch schon andere Ruinen besucht, deren Geschichte auch nicht wirklich erfreulich war. Aber dieses Erlebnis ergriff mich tiefer und umfassender als alles, was ich bisher gesehen hatte, denn es vermochte mich auf eine ganz andere Weise zu berühren als die kalten und distanzierten Bilder aus den Nachrichten oder die uralten Plätze, die schon seit Jahrhunderten nicht mehr bewohnt werden. Dieser Ort wurde nur grade vier Jahre vor meiner Geburt derart zerstört, dass nur noch blinde Mauern mit leeren Fenstern davon zeugen, dass hier Menschen gelebt und gearbeitet hatten.
Am tiefsten trafen mich die Bildwände, die an markanten Punkten aufgestellt sind und die einen Überblick über die Altstadt geben, wie sie sich vor dem Kriegsende präsentierte. Dieses direkte Nebeneinander von Gestern und Heute, von einer einst blühenden, schönen Stadt und dem, was davon übriggeblieben ist, fuhr mir derart ein, dass ich plötzlich den Tränen nahe war. Keine Beschreibung, kein Dokumentarfilm, keine Erzählung und kein Bericht konnten mir zuvor derart drastisch vor Augen führen, wozu Menschen in ihrer Verantwortungslosigkeit und in ihrem grenzenlosen Fanatismus fähig sind. Bisher war bei allem Schlimmen, das ich jemals zuvor gesehen und gelesen hatte, stets eine gewisse Distanz geblieben, durch die ich nicht derart unmittelbar und persönlich betroffen und ergriffen wurde, wie von diesem Ort. Hier erfasste ich erst, wohin Gedankenlosigkeit, Glaube, Fanatismus, Grössenwahn, Intoleranz, Machtgehabe und Kriegshetzerei letztlich führen – und wo sie beginnen. Und vielleicht ist es diese Erkenntnis, die mich immer noch dermassen beschäftigt, dass ich die Gedanken an die zerstörte Altstadt von Küstrin kaum mehr loswerde. Letztlich ist dieses Ruinenfeld bei Lichte besehen nicht anders als andere Ruinenfelder und Städte, wie Dresden und Schweinfurt, die noch sehr viel schwerer von Zerstörung betroffen waren. Zum Schlüsselerlebnis wurde der Besuch der Stadt für mich nur deshalb, weil ich gerade hier, vor dem Bild der intakten Altstadt und der elenden Gegenwart schlagartig erkannte, dass solche Geschehen eben nicht erst durch eine Reihe unglücklicher Umstände und Fehlentscheidungen eskalieren und zu Tod und Zerstörung führen, sondern dass alles schon sehr viel früher beginnt – und dass gerade heute sehr viel darauf hinweist, dass eine derartige Eskalation jederzeit wieder möglich und vielleicht sogar schon wahrscheinlich ist.