Leserfrage zum Propheten Mohammed


In diesem multikulturellen Schmelztiegel an der Seidenstrasse lebten damals neben Arabern und Angehörigen anderer Völker auch zahlreiche Aramäisch sprechende ostsyrische Christen, welche sich gegen eine Entwicklung auflehnten, die heute als Hellenisierung des nahöstlichen Christentums bezeichnet wird. Augenfälligster Ausdruck derselben war die Anerkennung der Beschlüsse des Konzils von Nizäa sowie weiterer griechischer Konzilien durch die syrische Grosskirche, beginnend 410 mit der Synode von Seleukia-Ktesiphon.
Diese Beschlüsse liefen auf eine Abkehr vom bisher verfochtenen unitarischen Monotheismus und auf die Übernahme der Lehre von Zweieinigkeit von Gott und dessen Sohn beziehungsweise von der Dreifaltigkeit hinaus. Und genau in diesem Punkt verweigerten sich die Christen in Merw: Sie sahen in Jesus weiterhin nichts anderes als einen Gottesknecht oder Gesandten Gottes.
Zugleich hielten sie es für notwendig, ihr nunmehr dissidentes Glaubensbekenntnis niederzuschreiben. Das geschah vermutlich ab 553. In diesem Jahr nämlich wurde in Merw ein Bistum der syrischen Grosskirche gegründet, was zur Folge hatte, dass die hellenischen Lehren nun auch hier – weit im Osten – an Boden gewannen. So entstand also zur Mitte des 6. Jahrhunderts ein dezidiert monotheistischer Textkorpus vor- beziehungsweise antinizenischer Machart, der zunächst keinen Namen trug, aber später als Koran bekannt werden sollte.
Der Ur-Koran war somit keine Gründungsurkunde einer neuen Religion, sondern das religiöse Credo einer peripheren christlichen Bewegung mit abweichender Gottesauffassung und Christologie, daherkommend als Vermischung von Aussagen des Alten und Neuen Testaments, der Apokryphen und der neuplatonisch-gnostischen Ideen sowie einzelnen zoroastrischen, manichäischen und buddhistischen Glaubenssplittern.
Andererseits blieb die koranische Bewegung nicht sonderlich lange christlicher Natur. Hierfür war der Einfluss arabischer Herrscher verantwortlich, welche das politische Vakuum füllten, das nach dem Kollaps des sassanidischen Königtums ab 650 entstand – an erster Stelle zu nennen Abd al-Malik, dessen Siegeszug nach Westen übrigens genau im besagten Merw begann. Unter diesem kam es um das Jahr 800 herum zu einer Loslösung der koranischen Bewegung vom altsyrischen Christentum. Dabei wurde der gemischtsprachige Text des Ur-Korans komplett ins Arabische transkribiert, was dazu führte, dass massenhaft ‹dunkle Stellen› entstanden, welche sich dem nur Arabisch Sprechenden seitdem nicht mehr zweifelsfrei erschliessen.
Dies liegt zum einen daran, dass die zahllosen aramäischen Worte einfach nur mittels anderer Schriftzeichen festgehalten, aber nicht übersetzt wurden. Zum anderen war die zunächst verwendete arabische Schrift im höchsten Masse defektiv, das heisst, sie kannte weder Vokalzeichen noch diakritische Zeichen zur unmissverständlichen Darstellung der vielen uneindeutigen Konsonanten. Deshalb kamen die ersten Koranfassungen in arabischer Schrift als äusserst rudimentäre Textskelette daher, welche allerlei differierende Lesungen erlaubten.
Ansonsten erhielt die angeblich neue und autochthone Religion der Araber nun die Bezeichnung ‹Islam›, das heisst ‹Übereinstimmung mit der Schrift›, also dem Ur-Koran. Damit war es allerdings nicht getan, denn es mangelte ja ebenfalls noch an einem ureigenen islamischen Gründungsmythos, zu dem der Koran aufgrund seiner Herkunft keinerlei belastbare Belege beisteuern konnte.