Wodurch wird ein Mensch zum Amokläufer ...

Ihr Mann sei schon gestorben. Aber die Kinder hätten trotzdem ein richtiges Fest organisiert. Und sie redet und redet. Schliesslich bittet sie ihn, ihr zu sagen, bei welcher Station sie zum Hauptbahnhof umsteigen muss. Der junge Mann ist von ihrem Auftreten sichtlich genervt. Sehr aggressiv fährt er sie an: «Nächste Station raus.» In Wahrheit wäre es aber erst die übernächste Station. Aufmerksam registrieren die Wissenschaftler nun, welcher Anteil der die Szene beobachtenden Menschen nun eingreift, um der Frau die richtige Auskunft zu geben. In der beschriebenen U-Bahn-Szene war das etwa jeder zweite.

Die Experimentanordnung wird danach von den Wissenschaftlern systematisch verändert. Beim zweiten U-Bahn-Test beschimpft der junge Mann die Frau laut und aggressiv: «Alte Schachtel, halt's Maul! Nächste Station raus!»

Jetzt sinkt der Anteil der helfenden Menschen auf knapp 30 Prozent. Diese Quote nimmt sogar auf 14 Prozent ab, wenn der angetrunkene junge Mann die Frau nicht nur beschimpft und ihr das Falsche sagt, sondern sie mit körperlicher Gewalt bedroht. Aber etwas verdient Beachtung. Etwa zwei Drittel der Personen, die sich in den beschriebenen Szenen helfend eingemischt haben, sind Frauen.

Bei drei zusätzlichen Varianten tritt jeweils eine weitere Person auf. Unmittelbar nach der falschen Auskunft erhebt sie sich, stellt sich schützend neben die Frau und sagt laut und deutlich: «Ich kenne mich in dieser Stadt nicht aus. Aber so kann man doch mit der alten Dame nicht umgehen. Wer weiss genau, bei welcher Station sie zum Hauptbahnhof umsteigen muss?»

Das couragierte Auftreten hat Folgen: Bei der ersten Szene erhöht sich die Quote der hilfsbereiten Bürger auf etwa zwei Drittel, bei der zweiten auf fast die Hälfte, und selbst bei der dritten, wenn es richtig gefährlich werden könnte, steigt sie auf etwa 30%. Ein einzelner mutiger Mensch kann offenbar beträchtliche Ansteckungswirkung entfalten und auf diese Weise der Gewalt Einhalt gebieten. Damit wird die einleitend vorgetragene These eindrucksvoll belegt: Wenn wir die Entstehung von Zivilcourage fördern, leisten wir wirkungsvolle Gewaltprävention.