In Erinnerung an Premier Tony Blair

Der Mensch muss das Gute wählen und das Böse vermeiden beziehungsweise bekämpfen. Hier die richtige Wahl zu treffen ist von so unendlicher Wichtigkeit, dass alle anderen menschlichen Zwecke kaum ins Gewicht fallen. Angesichts der in diesem Weltbild enthaltenen Möglichkeiten zur Selbstinszenierung als Vorkämpfer des unbezweifelt Guten nimmt es nicht wunder, dass ein ehrgeiziger christlicher Politiker, zumal einer, der sowieso zum Schauspielen neigt, leicht in die Rolle des Gottesritters schlüpft. Die grosse Stärke einer derart moralisierten Politik besteht darin, dass sie die Struktur gewisser dringlicher Entscheidungssituationen widerspiegelt. Manchmal kann man in der Tat nicht umhin, unter Zeitdruck zwischen gegebenen, schwerwiegenden Alternativen zu wählen. Als politische Grundeinstellung hat aber diese Denkweise massive Schwächen, verleitet sie doch dazu, blosse Interessenskonflikte als moralische Auseinandersetzungen zu missdeuten und ein vereinfachtes Gut-Böse-Schema auch auf andere Situationen zu projizieren. Sie entwertet das Verstehen, die Toleranz und Kompromissbereitschaft und die Suche nach neuen Möglichkeiten des entschärften Zusammenlebens zwischen Gegnern. Wer weiss, dass er die Weltsituation in Umrissen richtig überblickt und moralisch korrekt beurteilt, kann sich die Mühe einer genauen Kenntnisnahme der vielen Details sparen. Wenn die Aufgabe unendlich wichtig ist, sind kleine oder auch grössere Unwahrheiten lässliche Sünden. Was zählt schliesslich eine kleine Lüge verglichen mit der Bekämpfung des Terrors? Es hat vielleicht sogar etwas Heldenhaftes an sich, die eigene Seele um des Sieges der guten und gerechten Ordnung willen moralisch zu belasten. Vor der Invasion des Iraks hat eine Gruppe führender Nahostexperten bei Tony Blair vorgesprochen, um ihn vor den Folgen einer unüberlegten Entscheidung zu warnen. Die Situation im Irak sei sehr komplex, man könne das Gleichgewicht der politischen, religiösen, und nationalen Kräfte leicht stören, man müsse vorher genau wissen, was man vorhabe, wie man die Besetzung des Landes zu organisieren gedenke und so weiter. Blair soll nur widerwillig und gelangweilt zugehört haben, die Reden der Akademiker aber immer wieder mit derselben Frage unterbrochen haben: «Saddam ist aber ein Bösewicht, nicht wahr?» («But Saddam is evil, isn’t he?»).