Leserfrage zur Beschneidung und Genital-Verstümmelungen

Leserfrage
Im letzten Bulletin hast Du ausführlich zum Thema Islam geschrieben, unter anderem auch zur Beschneidung. Darin schreibst Du, dass Beschneidung eine Körperverletzung sei. Nun erinnere ich mich daran, dass mein Religionslehrer in der fünften Klasse erklärte, die Beschneidung hätte nichts mit dem Islam zu tun, also habe diese keinen religiösen Hintergrund, sondern sei vielmehr medizinischer Natur, denn die Sandkörner der Wüsten würden sich sonst unter der Vorhaut ansammeln und dort zu Entzündungen führen, weshalb die Beschneidung präventiv notwendig sei, um Entzündungen etc. vorzubeugen. Entspricht dieses Postulat meines ehemaligen Religionslehrers der Wahrheit? Wenn dies nicht der Fall ist, welchen Sinn hat die Beschneidung in der moslemischen und jüdischen Religion?
Kai Amos, Deutschland

Antwort
Um diese Frage zu beantworten, habe ich alle meine mir zur Verfügung stehenden Quellen durchforscht und daraus folgendes gemacht und zusammengestellt:

Der effektive Ursprung der Beschneidung ist unbekannt, und in den religiösen Schriften der Juden ist nirgends etwas davon geschrieben, dass die Beschneidung einen medizinischen Grund habe, sondern nur einen religiösen, von Gott befohlenen. Wenn die Sache jedoch als hygienische Massregel aufgefasst werden will, dann kann auch diese nicht wahr sein, denn solche Massnahmen lagen weiland Abraham, Moses, Josua und auch den Propheten mit Sicherheit fern. Wenn das Ganze religiös betrachtet wird, dann kann darin vielleicht eine ‹Reinigung› gesehen werden, unter Umständen in Form eines Zeichens in bezug auf eine Glaubensweihe und Sündenreinigung. Die Beschneidung kann mit Sicherheit nicht als Schutzmittel gegen Sandkörner aus den Wüsten oder gegen Krankheiten gedacht werden, denn dies wäre absolut wider den Thoratext, denn in dieser wird nichts Diesbezügliches genannt. Zwar wurde bei den Juden die Beschneidung als Reinigungsakt aufgeführt, ebenso wie bei anderen orientalischen Völkern, wie z.B. bei den Ägyptern und den Arabern, worüber aber nicht viel bekannt ist. Grundsätzlich wird aber seit alters her angenommen, dass die Beschneidung (Circumcision/ Zirkumzision) den Coitus resp. Geschlechtsverkehr erfolgreicher für die Befruchtung mache, dies frei nach der Bibel mit ihrem Ausspruch: «Durch die Beschneidung stellte Gott ihm reichliche Nachkommenschaft in Aussicht.»
In bezug auf das Beschneiden im Judentum erklärt ein Zitat folgendes:
«Laut der hebräischen Bibel (Gen 17,10 EU) wurde die Beschneidung unter den Israeliten von ihrem mythischen Stammvater Abraham eingeführt. Ihr Umfang ist dort (Genesis) nicht näher beschrieben oder definiert. Abrahams Lebensspanne wird meist auf etwa 1800–1600 v. Chr. datiert. Neuere Forschungen nehmen an, dass damals lebende Juden (erst) unter Mose (also etwa 1400–1200 v. Chr.) oder während des Babylonischen Exils (um etwa 600 v. Chr.) diese Praktik übernahmen und ritualisierten. Dadurch wurde die Beschneidung von Neugeborenen (Brit Mila), die am achten Tag nach der Geburt stattzufinden hat, zu einem der rituellen Gebote der Mitzwot (Anm. Billy: jüdische Vorschriften = elementarer Bestandteil des jüdisch-orthodoxen Glaubens). Neben den 10 Geboten gibt es weitere 613 Mitzwot. Der Eingriff wird von einem jüdischen Beschneider (Mohel, Plural Mohelim) durchgeführt, der darin ausgebildet wurde. Unterschiedliche Auffassungen gibt es darüber, ob die Brit Mila (Anm. Billy: ‹Bund der Beschneidung›) ohne oder mit Betäubung stattfinden soll. Das Durchführen der erstmals in der Mishna (Shabbat 19:2, etwa 200 n. Chr.; Anm. Billy: Mischna = ‹Wiederholung› ist die erste grössere Niederschrift der mündlichen Thora und als solche eine der wichtigsten Sammlungen) vorgeschriebenen Abschabung der inneren Vorhaut von der Eichel, mittels dafür gespitztem Fingernagel (auf einer Konferenz des Reformjudentums 1846 als der traditionelle Brauch genannt) kann dagegen seit dem 20. Jahrhundert als nahezu abgeschafft gelten.