Reflektieren und Toleranz

Grundlegende Ehrlichkeit ist diesbezüglich eine hohe und notwendige Tugend, wie aber auch die notwendige Aufrichtigkeit und menschliche Grösse, sich selbst gegenüber eine offensichtliche Charakterschwäche oder ein übles Unvermögen einzugestehen nicht hoch genug einzuschätzen sind.
In unserer auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Industriegesellschaft hat das Leistungsprinzip einen übermässig hohen Stellenwert. Selbst die kleinsten Schulkinder werden unsinnigerweise bereits auf Rentabilität, Effizienz, Ökonomie und auf einen falschen Ehrgeiz getrimmt. Jeder ist sich selbst der Nächste. Das gegenseitige und egoistische Konkurrieren, um besser, grösser und dominierender zu sein als alle anderen, hat in der erdenmenschlichen Gesinnung der Gegenwart eine hohe Priorität. Aus der Sicht der wahrlichen Menschlichkeit, im Sinne der schöpferisch-natürlichen Gesetze und Gebote zur Bestrebung des WIR-Bewusstseins, zeugt jedoch diese Denkweise von einer gewissen Erbärmlichkeit. Für eine überwiegend auf Materialismus, Profitgier, Egoismus, politische Machtgier und kultreligiöse Verblendung ausgerichtete Menschheit ist diese Haltung in der gegenwärtigen Epoche der Neuzeit dieses Planeten bezeichnend. Mehrheitlich wird das eigene Persönlichkeitsprofil der Selbstbeweihräucherung in glänzenden und aufpolierten Lettern geschrieben, in einem goldenen Rahmen hervorgehoben und an die höchste Wand geheftet. Das Eingeständnis einer persönlichen Liederlichkeit oder einer menschlichen Verfehlung wird in politischen, wirtschaftlichen oder kultreligiösen Kreisen mit Vorliebe und vielfach äusserst heuchlerisch als selbstgerechte Marketingstrategie ausgeschlachtet. Amerikanische Politiker sind offensichtlich dafür prädestiniert, unter Tränen ihre sogenannten ausserehelichen Affären und Eskapaden in der Öffentlichkeit zu beichten. Vermehrt treten katholische Geistliche an die Öffentlichkeit, um diese über ihre homosexuellen Neigungen zu informieren. Polizisten werden als Kriminelle oder Raser verhaftet, Ärzte als Vergewaltiger vor Gericht gestellt, Bankdirektoren und Bankangestellte wegen Insidergeschäften angeklagt oder z.B. Schweizer Politiker/innen als IV-Renten-Betrüger/innen entlarvt. Mit der gezielten Anwendung und Nutzung suggestiver Mittel und Methoden sowie mit psychologischen Raffinessen wird den Menschen durch ein öffentliches Geständnis eine vermeintliche Vertrauenswürdigkeit, Menschlichkeit, Einfühlsamkeit und ein Verständnis vorgegaukelt. Persönliche Schwächen werden jedoch in Tat und Wahrheit von den Betroffenen nur fadenscheinig begründet, und ihre Offenlegung wird medienwirksam in einem sogenannten ‹Outing› oder ‹Coming Out› als Charakterstärke und Lauterkeit deklariert. Letztendlich handelt es sich jedoch lediglich vielfach nur um einen perfiden Angriff auf die Leichtgläubigkeit der Menschen und dient einzig und allein dem Zweck der Ablenkung sowie der Stärkung der eigenen Position. Entgegen den unehrenhaften Erwartungen, Absichten und Spekulationen darf und kann eine derartige Expurgatoria bzw. die vermeintliche Reinwaschung von Schuld und Verfehlungen durch ein Eingeständnis in keiner Art und Weise als Legalisierung und Rechtfertigung einer persönlichen Charakter-Schlamperei ernstgenommen werden.
Der vermeintlich sachliche Umgang mit den persönlichen Schwächen wird vordergründig als Massstab und Zeugnis einer charakterlichen Reife wohl gerühmt – werden jedoch Liederlichkeiten angezeigt, dann werden diese nicht auf die eigene Person bezogen. Entgegen aller Offenheit, dem Mitgefühl und dem bekundeten Verständnis werden die eigenen Fehler und Mangelhaftigkeiten gegenüber Dritten gerne unerwähnt gelassen, hinter vorgehaltener Hand behandelt oder vehement bestritten. Der heimliche Besuch beim Lebensberater oder Psychiater findet öffentlich keinerlei Erwähnung, die Konsultierung eines Psychologen liegt jedoch bereits im Modetrend – insbesondere wegen Mobbing und Ausgebranntsein (Burnout).