Reflektieren und Toleranz

Als kurzes Beispiel diene aus dem NT, Matthäus Kapitel 5, der Vers 48: «Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.» Damit wird durch eine Irrlehre für den Menschen das unmögliche Erstreben der vermeintlich ‹göttlichen Vollkommenheit› zum Massstab eines jeden Gläubigen gemacht. Dieser Anspruch ist unerreichbar hoch gesetzt – abgesehen davon, dass eine ‹göttliche Vollkommenheit› illusorisch ist – und führt durch seine eigentliche Nichterreichbarkeit unter allen Umständen bei den Heerscharen der kultreligiösen, wahnkranken Gläubigen zu einer enormen psychischen Belastung sowie zu einem Konkurrenzkampf und zu unbändigen Versagensängsten. Persönliche Fehler und Unvollkommenheiten führen also je nach theologischer Auslegung in ihrer letzten Konsequenz als Sünde zur Verbannung und zum Ausschluss aus dem Himmel oder aus dem Kreis der Auserwählten. Systemkritische Theologen, wie der französische Dominikanerpater Jacques Pohier, dessen Werke selbst vom Papst diskreditiert wurden, verwerfen den christlichen Gedanken der Vergöttlichung des Menschen aus rein theologischen Gründen. Die Endlichkeit des Menschen sowie dessen NichtGott-Sein, spiegle genau jene Andersartigkeit gegenüber dem christlichen Schöpfer-Gott wider, wie diese Unterscheidung beim Erschaffen des Menschen durch den Schöpfer selbst beabsichtigt wurde. Keinesfalls dürfe der Mensch die Schwelle zur Gottwerdung überschreiten (siehe Jacques Pohier, ‹Quand je dis Dieu›, Paris, 1977). Religionsgläubige Menschen leben also grundsätzlich in einem ständigen Widerspruch mit ihrem eigenen Glauben sowie mit den nicht selten seltsamen Auslegungen der sogenannten Theologen und Schriftgelehrten. Nimmt man z.B. nur einmal das Christentum, dann wird klar, dass den Religionsverantwortlichen aller christlichen Kirchen und Sekten, vom Sektenguru über die einfachen Pfarrherren bis hinauf zum Klerus, diese Problematik sehr wohl bekannt ist und dass die Liste der Literaturhinweise auf diesbezügliche Beschönigungen, fadenscheinige Auslegungen und widersprüchliche Interpretationen endlos lang ist.
Die Schöpfung Universalbewusstsein kennt keine Unterscheidung in der Wertigkeit des Menschen; unabhängig von seinem Wissen, seinen charakterlichen Unzulänglichkeiten und Liederlichkeiten oder von seinen Fehlern wird jeder einzelne von ihrer Lebensenergie unaufhörlich durchflutet. Der aufrichtige und ehrliche Mensch steht in einer ständigen Auseinandersetzung und Selbstreflexion. Niemand ist vor dem Kampf gegen die eigenen Widersacher-Mächte und -Kräfte gefeit. Diese Kraftaufwendung fordert zur gegebenen Zeit von jedem Menschen einen gewissen Ausgleich in Form eines kontrollierten Schlendrians oder eines gemächlichen Vergnügens – vom einen mehr, vom anderen weniger.
Die ehrliche Konfrontation, eine klare Gegenüberstellung und die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen, Schlampereien und persönlichen Liederlichkeiten ist für viele Menschen in der Regel kein leichtes Unterfangen. Vielen sind die Einsicht und die Erkenntnisse in die eigenen Charakterschwächen und persönlichen Unehrenhaftigkeiten ein grosses Schreckgespenst. Dem Eitlen ist dies ein übler Flicken auf der vermeintlich weissen Weste, dem Prahlerischen ein peinlicher Anstoss für betretenes Schweigen, und dem Gottgläubigen ein Zeichen vermeintlich diabolischer Übergriffe der sündigen Verführung zur Schwachheit und zur Wankelmütigkeit des Glaubens. Dem ehrlich nach der Wahrheit Suchenden ist die Auseinandersetzung mit sich selbst ein Lernfeld von immenser Wichtigkeit. Das mentale Ringen und die bewusstseinsmässigen Kämpfe mit den eigenen Liederlichkeiten und Fehlern sind ein Teil der persönlichen Entwicklung. Sie halten den Menschen in seinen Bewusstseinsformen wach sowie das Gefühlsleben in Bewegung. Der kontrollierte und bewusste Umgang mit dem eigenen Unvermögen ist ein Lernfeld von gewaltigem Potential. Nirgends vermag der Menschen mehr über sich selbst in Erfahrung zu bringen als aus der meditativen Beobachtung und der Analysierung des eigenen Versagens oder bei der ehrlichen und tiefgründigen Ursachenforschung in bezug auf die eigenen Liederlichkeiten.