Pflichterfüllung

oder Gedanken über die Ausdauer, Standhaftigkeit und Pflichterfüllung

Zahlreichen Menschen sind die Begriffe Pflicht, Verpflichtung, Pflichterfüllung, Pflichtgebot, Pflichtmässigkeit, Pflichtbewusstsein, Pflichtgefühl, Pflichttreue oder Rechtschaffenheit usw. ein stechender Dorn im Auge. Den Pflichtvergessenen und Müssiggängern sind sie der Inbegriff schwerer Arbeit, unbequemer Mühen, körperlicher oder mentaler Anstrengung, Beschwerlichkeit und drohender Unannehmlichkeiten. Für einen krankhaft ängstlichen und verzagten Menschen ist die Pflichterfüllung ein Grund zur Panik und Verzweiflung. Wie im alten Sprichwort «Der Teufel meidet das Weihwasser», so meiden die Pflichtverdriesslichen ganz bewusst jegliche Formen von Verbindlichkeiten, Verantwortung und anstrengenden Aufgaben. Die Wahrnehmung von Pflichten, das Einhalten von Versprechungen oder Ausdauer und Standhaftigkeit sind bei vielen Menschen der gegenwärtigen Zeit aus der ‹Mode› geraten. Leider sind auch die aufrichtige Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und die Verlässlichkeit nur noch sehr selten anzutreffen. Es ist schwierig geworden, für einen anderen Menschen die ‹Hand ins Feuer› zu legen, diesem das Vertrauen auszusprechen oder sich dessen Integrität und Pflichtbewusstsein sicher zu sein. Unter Umständen erfordert die Pflichterfüllung von einem Menschen gewisse Einschränkungen, Entbehrungen und Zugeständnisse, die, oberflächlich betrachtet, in negativer Weise die persönliche Freiheit tangieren. Auf der Basis neuer psychologischer Einflüsse und Theorien haben die Begriffe ‹Freiheit›, ‹Selbständigkeit›, ‹Selbstbestimmung› und ‹Ungezwungenheit› einen zweifelhaften Beigeschmack egoistischer Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit erhalten. Im Zuge eines falsch verstandenen und falsch interpretierten psychologischen Trends zur vermeintlichen Persönlichkeitsentfaltung und zu Selbstfindungsprozessen werden alle Verpflichtungen, Pflichten, Aufgaben und Verbindlichkeiten jeder Art als Einengungen und Einschränkungen der persönlichen Freiheit und Entfaltung verpönt. Daher liegt heute vielfach eine Form der ichbezogenen Selbstverwirklichung und Selbstfindung im Mittelpunkt des menschlichen Bestrebens. Diese Trends stehen im Gegensatz zu den Bemühungen um evolutiv wertvolle zwischenmenschliche Beziehungsformen und der Schaffung bestmöglicher sozialer Systeme des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Menschliche Tugenden und charakterliche Vortrefflichkeiten werden gerühmt und besungen, in Gedichten beschrieben, bei Gesprächen und Diskussionen gerne erwähnt, an festlichen Anlässen zitiert und hochgehalten sowie auf Kalenderblättern verewigt. Doch es ist dem Menschen müheloser und angenehmer, die erhabenen Tugenden und Lauterkeiten in glühenden Beschreibungen zu loben, hochzuheben oder in Lippenbekenntnissen zu würdigen und zu ehren, als sie wahrlich zu leben.
In der Geisteslehre werden viele wertvolle und grundlegende Tugenden aufgeführt. Jede einzelne von ihnen ausführlich zu beschreiben würde jedoch Bücher füllen. Zu den wesentlichsten aller Tugenden gehören sicherlich die Erkennung der Selbstpflichten, die Pflichterfüllung und Eigenpflichterfüllung. Sie sind ein essentieller Bestandteil einer selbstverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung. Dennoch liegt ein gewaltiger Graben zwischen der Theorie und Praxis, zwischen der Pflichterfüllung und dem Pflichtversäumnis.